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Deutschland-Frankreich: Die Bedeutung der Geschichte wiederfinden

Der französische Präsident Emmanuel Macron reist vom 2. bis 4. Juli zu einem Staatsbesuch nach Deutschland.

Noch nie war die Akkumulation von Differenzen zwischen den beiden Ländern so öffentlich. Energie- und Verteidigungspolitik, Wirtschafts- und Währungspolitik, Umweltpolitik - alles scheint die beiden größten europäischen Volkswirtschaften, die nach wie vor der "Motor" der Europäischen Union sind, voneinander zu entfremden.

Deutschland scheint durch die tiefgreifende Veränderung seines Umfelds, welches dem Land nach dem 2. Weltkrieg den Wiederaufbau ermöglichte, gelähmt zu sein; Frankreich scheint frustriert, weil seine Erwartungen nicht an richtiger Stelle anerkannt werden. Diese Spannungen haben mittlerweile auch die Europäische Union erfasst, in der sich die beiden Partner oftmals unvereinbar gegenüberstehen.

Die Lehren der europäischen Geschichte sind jedoch eindeutig: Zwei benachbarte und vergleichbare Nationen auf demselben Kontinent sind dazu verurteilt, sich entweder zu verstehen oder aneinanderzugeraten.

Aus diesem Grund stellten die historische Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 und die Anerkennung der gaullistischen Prinzipien im Elysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 einen echten strategischen Bruch dar, der dem Kontinent dauerhaft Frieden und Wohlstand bescherte und ein neues Kapitel in dessen Geschichte aufschlug.

Der Aufbau der EU hat es den Akteuren auf beiden Seiten des Rheins oftmals ermöglicht, auch in den schwierigsten Momenten eine gemeinsame Basis zu finden. Mit neuartigen Instrumenten konnten sie das Vertrauen aufbauen, das notwendig war und ist, um die übliche und so natürliche Divergenz der Interessen des Augenblicks zugunsten einer umfassenderen und langfristigen Vision zu überwinden.

Valéry Giscard d'Estaing, der verkannte Architekt dieser Allianz, sprach zu Recht von der notwendigen "Intimität", die zwischen Staatslenkern gepflegt werden müsse. Er bewies dies mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt zum Vorteil unserer beiden Länder und ganz Europas. Helmut Kohl verstand es ebenso, diese Vertrautheit herzustellen.

Denn nur sie ermöglicht es, die unvermeidlichen Gegensätze in der Abwicklung der Tagespolitik zu relativieren. Die Bevorzugung gemeinsamer, langfristiger Entscheidungen erleichtert die oft sehr technischen Verhandlungen, die tagtäglich zu bewältigen sind.

Obwohl es nie einfach war, die Analysen auf beiden Seiten des Rheins spontan zu teilen, scheint dieses Vertrauen schwächer geworden zu sein.

Eine heterogene deutsche Koalition ist nicht ideal, um sich an einen völlig neuen Kontext anzupassen; sie hält zu oft am Ordoliberalismus fest, der für die Staatsschuldenkrise verantwortlich ist. Zu sehr wird eine Haushalts- und Geldpolitik verfolgt, die wie in Stein gemeißelt ist und den echten Merkantilismus verfolgt; die Koalition in Deutschland zahlt einen hohen Preis für falsche Entscheidungen in den Bereichen Wirtschaft, Energie und Verteidigung. Nach der Wiedervereinigung erweckt das Land den Eindruck, als würde es ein Einzelschicksal bevorzugen.

In Frankreich belastet der Gedanke an einen Rest an unumstößlicher Souveränität noch immer die öffentliche Debatte. Einige sehen sich weiterhin allein der Welt gegenüber; sie zögern ständig, im Kontext einer europäischen Zusammenarbeit, „mitzuspielen", obwohl diese Kooperation die Macht und die Identität ihres Landes garantiert. Sie sehen nicht, dass in diesem Europa des 21. Jahrhunderts in Wirklichkeit nichts ohne die Staaten möglich ist, die selbst immer mehr nach dem Eingreifen der Union verlangen. Der Kampf gegen Corona, der Wirtschaftsaufschwung, die Währungsstabilität, die Finanzierung des digitalen und ökologischen Wandels wären ihnen ohne die Europäische Union nicht möglich gewesen.

Es ist an der Zeit, die Bedeutung der Geschichte wiederzuentdecken und sich auf das Niveau der Herausforderungen, die sie an uns richtet, zu erheben.

Nur ein wiedergefundenes Vertrauen, ein vertiefter Dialog über die geopolitische Zukunft des Kontinents und seine Einzigartigkeit, gestützt auf die durch öffentliche Meinungen bekundete Überzeugung, dass es den Staaten nicht allein gelingen wird, alle Herausforderungen einer neuen Welt zu bewältigen, können die Regierungen in die Lage versetzen, die Erwartungen ihrer Völker zu erfüllen.

Hoffen wir, dass dieser Staatsbesuch, bei dem der Dialog mit den Bürgern im Vordergrund steht, dazu beitragen wird, das für unsere Länder und für Europa unerlässliche Vertrauen wiederherzustellen.
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