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Europa: Das Erwachen der Erinnerung

Der russische Angriff auf die Ukraine stößt in Europa auf allgemeine Ablehnung und bislang auf einhellige Verurteilung. Doch während es sich für einige hierbei nur um eine schwierige diplomatische Frage handelt, hat Putin für andere im Osten Erinnerungen geweckt.

Dieser Krieg findet in einem Gebiet statt, in dem die schlimmsten Morde and Zivilisten verübt wurden, jene vom Historiker Timothy Snyder beschriebenen "Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin", die sich von der Ukraine über Polen und Belarus bis hin zu den baltischen Staaten erstrecken.

Dort ordneten Diktatoren die Ermordung von mehr als 14 Millionen Zivilisten in weniger als 12 Jahren (1933-1945) an, zu denen die noch zahlreicheren Opfer hinzukommen, die die Kämpfe des Zweiten Weltkriegs in den selben Landstrichen forderten.

Der Holocaust ist bekannt, dokumentiert und verurteilt, und die Erinnerung an ihn wurde wachgehalten, indem den Tätern in Nürnberg der Prozess gemacht wurde. Die sowjetischen Verbrechen hingegen wurden vergessen, versteckt, von der kommunistischen Propaganda verschleiert und erhielten keine juristische Aufarbeitung, die allein die Hoffnung auf ein weiteres Leben in Frieden ermöglicht. Indem er versucht, die Geschichte umzuschreiben, weckt Putin die Erinnerung an sie.

Stalins Russland hatte vor dem Krieg mehr Verbrechen begangen als der Nazi-Diktator. 700.000 Sowjetbürger fielen 1937/38 "Säuberungen" zum Opfer, 4 Millionen Zivilisten in der Ukraine wurden zwischen 1933 und 1937 absichtlich ausgehungert. Gemeinsam, indem sie sich 1939 offiziell durch den Deutsch-Sowjetischen Pakt verbündeten, marterten, deportierten und ermordeten die beiden Diktaturen zwei Jahre lang die Zivilbevölkerung dieser Regionen und zerstückelten ihre Staaten. Anschließend, als das Dritte Reich zusammenbrach, brach die kommunistische Diktatur erneut hinter der falschen Seite des Eisernen Vorhangs hervor und hörte nicht auf, die Eliten und die treibenden Kräfte dieser Völker niederzumähen.

Das haben die Nachfahren der Gulag-Deportierten, die oftmals die Anführer dieser Staaten sind, durchaus im Sinn. In Mitteleuropa gibt es keine Familie, die sich nicht irgendwann mit der Barbarei des kommunistischen Russlands auseinandersetzen musste, an die sie das Russland Putins erinnert. Ihnen ist die Erinnerung an die Massaker in Fleisch und Blut übergegangen.

Sie sinnen nicht auf Rache, sondern fürchten die Rückkehr des Massenmords und der Tötung von Zivilisten. Und Putins Armee liefert ihnen dafür reichlich Gründe. Indem sie einen Krieg des 20. Jahrhunderts führt, der auf Überwältigung und purer Gewalt, Vergewaltigungen und Raubüberfällen, auf der Aussetzung von jeglichen Regeln und der bewussten Entscheidung für Brutalität beruht, erinnert der Nachkomme der Roten Armee an die schlimmsten Übergriffe seiner Vorfahren.

Die richtige europäische Reaktion auf die russische Aggression wird heute von den osteuropäischen Ländern getragen. Die Ukraine verteidigt nicht nur ihr Territorium und ihre Identität, was bereits legitim ist: Sie schützt das dösende Europa vor den schlimmsten Leiden, indem die Ukraine diese für Europa erduldet. Sie ehrt die Sache der Freiheit. Der Westen und die alten Nationen täten gut daran, sich dessen bewusst zu werden, bevor es zu spät ist. Putin ist nicht in der Lage, seinen Landsleuten ihren attraktiven Lebensstandard zu bieten und auch nur einen Bruchteil der europäischen Wirtschaftskraft zu erreichen. Er hat den Wettbewerb in diesem Bereich verloren. Ihm bleiben nur noch Schrecken, Terror, Massaker und Krieg.

Aus diesem Grund geht es hier nicht mehr um Demütigung. Worum es hier geht, ist die unerlässliche Niederlage von Putins Russland, im Namen der Menschlichkeit, für die Welt und den Frieden in Europa.
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