Souveränität bedeutet für ein Volk, frei entscheiden zu können. Die Briten wollten die Europäische Union verlassen: Das ist ihr Recht.
Souveränismus ist Egoismus. Es ist eine Ideologie, die Identität auf Souveränität reduziert. Nach Donald Trump ist ihr aktueller Meister nun Boris Johnson. Denn es sind Geschichte, Geographie, Kultur, Sprache und Traditionen, die die Identitätssignatur von Völkern ausmachen und diese lässt sich nicht allein in ihrer politischen Organisation zusammenfassen.
Es ist falsch, zu glauben, dass Völker oder Staaten eine dauerhafte Unabhängigkeit voneinander erreichen können, dass sie Entscheidungen treffen können, ohne die Konsequenzen für ihre Bürger und Partner zu bedenken. In diesem Sinne ist der Souveränismus eine demagogische Lüge, der nur zu weiterem Leid führen kann. Mit seinen Exzessen durchbricht dieses Denken die Wälle der Vernunft, um den Horizont mit unkontrollierbaren Leidenschaften zu überschwämmen. Die Geschichte ist voll von Beispielen für solche Umwälzungen. "Die Kontrolle zurückgewinnen" ist ein nationalistischer Slogan, der die Realität einer vernetzten Welt verleugnet, besonders in einer Nation, die ihr Glück nur dem Liberalismus und der größten Offenheit verdankt.
Wie auch immer die aktuellen Verhandlungen über das künftige Verhältnis zwischen Kontinentaleuropa und Großbritannien ausgehen, das Leben der Frauen und Männer, die dort leben, wird davon betroffen sein. Einigung oder Nicht-Einigung, im Anschluss muss es ein Abkommen über den weiteren Austausch und die weitere Zusammenarbeit geben. Dies hat die Europäische Union geplant und man arbeitet bereits an Notfallmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die Verbindungen nicht gänzlich unterbrochen werden. Die EU wurde aufgebaut, um die Interessen ihrer Bürger mit der Kraft der Vernunft zu schützen und die Union wird bis zum Ende versuchen, dafür zu sorgen, dass sie sich durchsetzt. Sollte es bis Ende Dezember keine Antwort von der anderen Seite des Ärmelkanals geben, wird man den Dialog mit seinem engen Nachbarn fortsetzen. Außerdem hat man in der EU bereits Vorkehrungen getroffen, dass der Luft-, Straßen- und Schienenverkehr nicht unterbrochen werden.
Darauf scheint ein politisch angeschlagener britischer Premierminister zu setzen, der mit seiner Empire-Nostalgie und dem Gesichte eines klugen Fuchses, der sich im gefährlichen internationalen Spielfeld der Machtverhältnisse behaupten muss, in eine schwierige Lage manövriert hat. Die Naturgesetze erinnern uns jedoch in jedem Moment an die Bedeutung der schlichten Größe in einer räuberischen globalen Welt, die keine Gnade für die Schwächsten kennt. Durch seine Handlungsweise schwächt Johnson den Westen, Europa und sogar die NATO im Angesicht von chinesischen, russischen oder türkischen Diktaturen; er hält den Mythos aufrecht, welchen manche den Grenzen anhängen, die bereits durch das Fehlen einer Einigung überfordert sind.
Sollen doch diejenigen, die die Grenzen loben, die Staus und Schwierigkeiten beobachten, die sich in Calais und Dover häufen, nur um sie zu retten! Fast auf den Tag genau vor dreißig Jahren wurde der Kanaltunnel vollendet. Wir können jetzt den Rückschritt ermessen, den die Wiedereinführung von Kontrollen darstellt. Wir werden die Menschen einparken, die wir zusammenbringen wollten. Das wird teuer, wie viele der Folgen dieser unverständlichen Saga. Unser maritimer Nachbar, der ohnehin schon in schlechter Verfassung ist, wird dadurch sehr geschwächt werden, und das ist keine gute Nachricht. Europäische Fischer und Landwirte, Unternehmen und alle Wirtschaftsakteure, die sich über Grenzen hinweg vertraut haben, werden zusätzliche Gründe für Misstrauen und Schwierigkeiten finden. Wenn Unvernunft derartig das öffentliche Handeln bestimmt, sind Verzweiflung und Wut nicht weit entfernt. Welch Verschwendung!
Veröffentlicht in der Zeitung „Ouest-France" am 21. Dezember 2020 in französischer Sprache: www.ouest-france.fr