Mehr als eine Milliarde Menschen sind nun in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Der Handel ist gestoppt; die Wirtschaft ist zum Stillstand gekommen. Um zu verhindern, dass aus einer Gesundheitsbedrohung eine tödliche weltpolitische Krise wird, müssen große Herausforderungen, die sowohl unerwartet als auch bedeutend sind, bewältigt werden. Hier sind sieben von ihnen:
- Die außerordentliche Einschränkung der Freiheiten schafft ein Bewusstsein, das durch die Eindämmung fast aller Aktivitäten und Schließung vieler Orte, den Ernst dessen symbolisiert, was auf dem Spiel steht. Eine moderate Anwendung dieses Schemas kann nur empfohlen werden. Die gesamte Geschichte der Menschheit erinnert uns daran, dass die Angst ein schlechter Ratgeber ist und dass sie ihre Verbreiter leicht überflügeln kann. In diesem Zusammenhang werden wir ebenfalls die üblichen Auswüchse von Demagogen feststellen, die immer mehr verlangen.
Aber ist es in einer Demokratie möglich, die Bürger dauerhaft dazu zu zwingen, zu Hause zu bleiben und auf die wichtigste der Freiheiten, die Bewegungsfreiheit, zu verzichten? Durch Anwendung von Gewalt?
- Die Bedeutung, die die Experten einnehmen, spiegelt zweifellos die bedauerliche Abwertung der öffentlichen Rede wieder. Sich exklusiv auf sie zu verlassen und nur ihnen zu erlauben, sich auszudrücken, erhöht die Gefahr. Sie werden bald in Bezug auf Diagnose und Abhilfemaßnahmen uneins sein; sie werden bald von der Rolle der mitverantwortlichen Menschen, die wir von ihnen erwarten, überwältigt sein. Ihre Meinung muss berücksichtigt werden, jedoch dürfen andere Wortmeldungen nicht vernachlässigt werden.
Die Gesundheit steht genauso auf dem Spiel wie alles andere. Die Verantwortung der Führungskräfte ist nun oft überwältigend. Diese muss angenommen werden und kann in der Tat nur direkt mit den Bürgern geteilt werden.
- Die kollektive Garantie darf die individuelle Verantwortung nicht ausschließen. Dem Slogan "Der Staat wird zahlen", den einige Europäer sehr schnell eingeführt haben, steht ein Konzept entgegen, das wahrscheinlich widerstandsfähiger ist und die Gemeinschaft und den Einzelnen in die Sicherung der Wirtschaft, des Handels und unseres Modells einbezieht.
Die Entmachtung der Bürger, der Missbrauch des Widerrufsrechts oder des Vorsorgeprinzips muss unter allen Umständen vermieden werden, da sonst eine Krise noch mehr sozialen Schaden anrichtet.
Während es wichtig ist, die am meisten gefährdeten, zerbrechlichsten und verletzlichsten Personen zu schützen, müssen andere ihren Teil des Risikos akzeptieren.
Denken wir immer daran, dass eines der nicht eingehaltenen Versprechen des Totalitarismus immer die Risikoreduzierung war, und die Aufgabe der individuellen Verantwortung im Namen des kollektiven Interesses voraussetzte. Wir kennen das Ergebnis: Verfall ohne Freiheiten.
- Wir durchleben ein Jahrhundert der Emotionen. Vielleicht fehlt uns bisher etwas, das uns wach rüttelt, und wir nutzen die Gelegenheit, zusammen eine Sache zu überstehen. Dies sind immer Momente des Enthusiasmus. Aber wir müssen uns vor Auswüchsen hüten, die das Urteilsvermögen trüben.
Bei jeder Katastrophe sind die Bürger bereit, den Mut derer zu feiern, die in der ersten Linie stehen. Nach der Attentatswelle von 2015 und 2016 waren unsere Helden die Ordnungskräfte; nach dem Brand von Notre Dame waren es die Feuerwehrleute; oft ist es unser Militär; heute sind es die Mitarbeiter im Gesundheitswesen.
In diesem Bereich arbeiten außergewöhnliche Menschen, die sich durch Kompetenz, Mut, Selbstaufopferung und menschliche Qualitäten auszeichnen. Braucht es Katastrophen, um dies zu erkennen und ihnen Anerkennung zu zollen?
Unsere alten Demokratien, von denen allzu oft gesagt wird, dass sie müde sind, werden von Menschen belebt, die hingebungsvoll, engagiert, dem allgemeinen Interesse verpflichtet und oft bereit sind, alles zu tun, um ihren Mitmenschen zu helfen. Die Emotion eines Augenblicks sollte uns dies nicht vergessen lassen und sollte nicht die Notwendigkeit verschleiern, uns jederzeit als Mitglieder und Akteure einer echten Gemeinschaft gemeinsamer Werte zu betrachten.
- Werte haben, wie Viren, keine Pässe. Die europäischen Staaten wollten, wie alle anderen auch, ihre Bürger durch die Schließung ihrer Grenzen beruhigen. Diese Krise wird zeigen, dass sie sich geirrt haben und dass die Schließung niemanden geschützt hat, auch nicht vor ihrem Egoismus! Dieser unangebrachte Reflex steht im Widerspruch zu den Regeln und dem Geist der Europäischen Union.
Die Rückbesinnung auf die Nation, ist eine traumhafte Chance für Demagogen und bedroht den Aufbau Europas. Die Europäer hätten eine konkrete und gemeinsame Reaktion auf das Virus entwickeln sollen: Quarantäne oder nicht, Zusammenarbeit und Aufteilung von Tests und Masken usw. Solange sie dies nicht tun, werden die ergriffenen Maßnahmen unvollkommen sein. Die Bevölkerung an einem Ort abzuschotten an einem anderen aber nicht, die Herdenimmunität dort zu propagieren und andernorts den Virus frontal anzugreifen, sind Fehler, die sowohl von der Schwierigkeit der Aufgabe für die Verantwortlichen, als auch von ihrer Verzweiflung, zeugen.
Wir wussten, dass die Solidarität zwischen den Europäern zurückgegangen war, aber wir wussten bisher noch nicht, in welchem Ausmaß dies passiert!
Es wird eine starke Geste brauchen, um den Mitbürgern Vertrauen und Hoffnung zurückzugeben: Warum nicht ein Europäischer Rat am 26. März mit der physischen Anwesenheit der Staats- und Regierungschefs, statt einer unrühmlichen und wahrscheinlich ergebnislosen Videokonferenz? Dies würde es ermöglichen, den enormen diplomatisch-technokratischen Apparat, der diese Ratssitzungen normalerweise begleitet, aufzugeben und den europäischen Entscheidern endlich die Möglichkeit geben, sich persönlich zu beraten und gemeinsam politisch zu agieren.
Es wäre ein guter symbolischer Akt, der ein gegensätzliches Zeichen zu den Mauern, Zäunen und dem Stacheldraht setzt, die auf dem Planeten mehr und mehr zu sehen sind und Barrieren zwischen den Menschen aufbauen.
- Diese Lektion gilt auch für die G7. Die Tatsache, dass der US-Präsident bereits beschlossen hat, seine Amtskollegen im kommenden Juni nicht mehr physisch zu empfangen, zeigt, wie sehr die Vereinigten Staaten ihren Führungsanspruch aufgegeben haben und wie wenig Bedeutung sie der internationalen Zusammenarbeit beimessen. Ohne sie besteht jedoch kaum eine Chance, den Kampf gegen das Virus, das aus China kommt, zu gewinnen.
Die Grenzen werden sich wieder öffnen und der Handel wird wieder aufgenommen, weil er für unsere Bevölkerung lebenswichtig ist. Darüber hinaus wird das Virus auch die ärmsten Länder treffen. Nur eine wirklich konkrete globale Anstrengung wird es daher ermöglichen, das Virus, durch die Koordinierung von Eindämmungsmaßnahmen, die gemeinsame Nutzung von Medikamenten und die Bündelung medizinischer Ressourcen, auszumerzen.
Europa kann dabei die Initiative ergreifen. Dies wäre in seinem Interesse und im Einklang mit seinen Werten.
- Die Geschichte unserer Länder wird durch die schicksalhaften Entscheidungen unserer Anführer bestimmt, die rückblickend ohne Nachsicht analysiert werden müssen. Das Ausmaß der Wirtschafts- und Finanzkrise, die jetzt unvermeidlich erscheint, hängt von den Entscheidungen ab, die sie in den kommenden Tagen treffen werden. Früher oder später müssen wir wieder anfangen zu arbeiten und den Preis für den plötzlichen Produktionsstopp bezahlen. Der Slogan "Bleiben Sie zu Hause" muss durch den Slogan "Krempeln wir die Ärmel hoch" ersetzt werden und muss alle Akteure bei der Wiederbelebung der europäischen Wirtschaft mit einbeziehen, außerdem hängt dies nicht allein von der Zentralbank, dem Europäischen Rat oder der Kommission ab.
Die Bedingungen, unter denen wir unsere Arbeit wieder aufnehmen können, dürfen nicht unter denselben chaotischen Vorzeichen entschieden werden, wie es bei dem Stopp des wirtschaftlichen Lebens geschehen ist. Sie müssen abgestimmt sein, zumindest auf kontinentaler Ebene und, wenn möglich, darüber hinaus. Begleitende Maßnahmen und Sanierungspläne müssen sich ergänzen und dürfen nicht miteinander konkurrieren.
Diesmal müssen wir wirklich zusammenhalten.