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Steht die europäische Wiedervereinigung infrage?


Unter den Brüchen, die die Europäische Union durchziehen, ist jener zwischen Ost und West der tiefste.

Mit Ausnahme der baltischen Staaten, die sich nach der sowjetischen Besatzung als lebendige Demokratien neu erfanden, formiert sich in Osteuropa ein Club von Staaten, deren Regierungen offen gegen die Prinzipien opponieren, die die westlichen Demokratien ausmachen. Dagegen setzen sie als Alternative den "Illiberalismus". In Mittel- und Osteuropa zeigen verschiedene politische Bewegungen, wie schwer es ist, dem Totalitarismus auf Dauer zu entkommen - indem sie Gesetze und Verfassungen so anpassen, dass sie einmal erlangte Macht auch behalten.

Die Demokratie besteht aus Regeln, etwa denen des Rechtsstaats und einer unabhängigen Justiz. Sie besteht aber auch aus Verhaltensweisen, die die Neutralität öffentlicher Gewalt akzeptieren, die Gegenmacht, den Widerspruch, eine vielfältige Presse, die Opposition. Sie besteht aus zahlreichen weiteren Errungenschaften, die wir vor langer Zeit ausgetragenen Konflikten verdanken und die deshalb Eingang gefunden haben in die europäischen Verträge. Manche in Mittel- und Osteuropa kehren diesem Modell nun den Rücken, dem sie sich eigentlich vertragsgemäß verschrieben hatten. Von kindlicher Sicherheit getragen, postulieren sie eine rein formale Definition der Demokratie, die sich als Reaktion auf die vorgebliche Laxheit des Westens auf rasenden Nationalismus stützt, auf Demagogie und Provokation, auf Populismus reinsten Wassers. Die Führer dieser Länder tragen zu einer Schwächung der Union bei in einem Moment, in dem sie sich ohnehin großen Mächten gegenübersieht, die höchstselbst Anhänger des Autoritarismus sind, wie die Türkei.

Es könnte dies "nur" eine hohe Wellen schlagende politische Debatte sein - von inakzeptablen Entgleisungen wie jenen des polnischen Premierministers zum Holocaust abgesehen. Doch die europäische Solidarität ist davon in gewaltigem Ausmaß betroffen.

Die Führer jener Staaten betreiben gefährliche Spalterei. Ihre Autonomiebestrebungen in der Außenpolitik enden letztlich darin, das Spiel Chinas, Russlands und von Mr. Trump zu spielen. Sie ziehen gegen die Europäische Union, die da zurückhaltender ist, auf die "neue Seidenstraße", sie handeln mit russischer Kernkraft, sie kompromittieren sich im Umgang mit der Türkei und begreifen ihre Verteidigung einzig unter dem Schutzschirm der Amerikaner. Ihre Einstellung zu Flüchtlingen ist juristisch zu verurteilen, vor allem aber ist sie eine moralische Bankrotterklärung. Sie ist auch ökonomisch unverständlich, da die Demographie der Länder Mittel- und Osteuropas überall unter Druck steht und mehr und mehr ihrer Leute ins Ausland abwandern. Diese schweren Verfehlungen akkumulieren sich zu einem veritablen Abdriften einer ganzen Region, das deren Bevölkerung schadet und nicht durch das Verhalten der anderen Europäer erklärt werden kann.

Mittel- und Osteuropa konnte sich ohne jeden Zweifel stets auf die europäische Solidarität verlassen, selbst in der militärischen Verteidigung seiner Ostgrenzen. Die Europäer finanzieren durch umfassende Kredite die wirtschaftliche Erholung der Region. Die Strukturfördermittel der Europäischen Union summieren sich seit 2004 auf 1.000 Mrd. Euro. Der Großteil davon floss in diese Länder. 60% der öffentlichen Investitionen in Polen zwischen 2014 und 2020 werden mit europäischem Geld realisiert, insgesamt 86 Mrd. Euro in sieben Jahren. Während der gleichen Zeit hat Ungarn 25 Mrd. Euro erhalten, die Slowakei 15 Mrd. und die Tschechische Republik 23 Mrd. Diese 150 Mrd. Euro entsprechen 2.700 Euro pro Einwohner, Neugeborene eingeschlossen. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen der europäischen Institutionen, die immer wieder auch eine Aussetzung des Mittelflusses erwogen, haben diese - nicht immer verantwortungsvoll genutzten - Zahlungen das Wiedererstarken Mittel- und Osteuropas befördert. Das ist im Interesse ganz Europas und gerade auch der Bürgerinnen und Bürger der ärmsten Länder des Kontinents.

Doch kann man nicht ewig die Meinungen der Öffentlichkeiten und Regierungen Westeuropas ignorieren. Ein neues Eintreten für Europa ist notwendig auf Seiten jener, die als undankbare Profiteure einer Union erscheinen, die auch andere Finanzierungssorgen hat. In diesem Frühling beginnen die Verhandlungen über die EU-Finanzen der kommenden sieben Jahre. Man wird dabei nicht umhin kommen, ein neues Gleichgewicht zu finden zwischen dem Verhalten der Regierungen der Region, das nicht gleichbedeutend ist mit den Überzeugungen ihrer Bürger, und der Großzügigkeit der Beitragsleistenden.

Denn es sind da nicht nur eherne Prinzipien, sondern auch wohlverstanden nationale Interessen im Angesicht sozialer, außen- und verteidigungspolitischer, wirtschaftlicher und finanzieller Herausforderungen. Während künftige Erweiterungen mehr und mehr in Frage gestellt werden, wird dabei über allem die Frage stehen, ob die Wiedervereinigung des Kontinents ein Erfolg war.


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