Gehorchen die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten eigentlich den Gesetzen der Diplomatie oder bereits der Innenpolitik ? Diese Frage ist nicht nur theoretischer Natur, gerade jetzt, da sich Referenden als bevorzugtes Ausdrucksmittel des Bürgerwillens ausbreiten.
Die Niederlande wissen nicht, wie sie den Widerspruch zwischen der Abstimmung ihres Parlaments in Bezug auf das EU-Assoziationsabkommen mit der Ukraine und dem Votum einer Bürgerinitiative auflösen sollen. Das Vereinigte Königreich verheddert sich in der Umsetzung des vom Volk gewünschten Austritts aus der Union. Italien hat noch nicht alle Konsequenzen des ‘Nein’ zu Matteo Renzi für die Zugehörigkeit des Landes zur Eurozone verdaut. Die Schweiz müht sich seit zwei Jahren ab, den Willen des Volkes nach einer Begrenzung der Zuwanderung mit seiner Mitgliedschaft im Schengenraum zu vereinen. Dabei sagen die Bürger regelmäßig aus Gründen Nein, die nichts mit der eigentlich gestellten Fragen zu tun haben. Man muss nur an das kürzliche Beispiel von Alexis Tsipras denken : Um die Zustimmung seiner Mitbürger zu erhalten, hielt er ein bizarres Referendum ab, bei dem er für ein Nein warb, nur um danach die Politik derer zu machen, die mit Ja gestimmt hatten !
Bislang war es ausgemachte Sache, dass diplomatische Beziehungen, die die höchsten Interessen von Staaten betrafen, ein hohes Maß an technischem Knowhow, ja sogar an Geheimhaltung brauchten. Sie waren deshalb das Vorrecht der höchsten nationalen Autoritäten, ihre Legitimation aus einer demokratischen Delegation ziehend, langfristige Ausrichtungen zu bestimmen, die sich mit breiten gesellschaftlichen Debatten nicht vertrugen. Die Schaffung der Vereinten Nationen, der die NATO begründende Vertrag von Washington, die Römischen Verträge über die Europäischen Gemeinschaften, sogar Friedensverträge, Handelsverträge und Kriegserklärungen waren bislang allesamt der Zuständigkeit von Parlamenten und Exekutiven unterworfen. Sie wurden nicht einfach den Ergebnissen von Referenden ausgesetzt und es wurden auch keinerlei Ansprüche in diese Richtung erhoben.
Es wäre deshalb angemessen, das zu bewahren, was zur Diplomatie gehört. Wenn nunmehr wirklich jede Frage zum Gegenstand eines Referendums geeignet sein soll, das in den allermeisten Fällen einer simplen Vertrauensfrage seiner politischen Initiatoren gleichkommt, dann wäre keine wahrhaftige Diplomatie mehr möglich ! Das wäre, als würde man sich der in Posts und Tweets kochenden Volksseele ausliefern ! Die Gefahren einer solchen Situation für die Beziehungen zwischen Staaten betreffen letztlich jeden, aber repräsentative Systeme und die europäischen Institutionen sind dafür besonders anfällig.
Die Mitgliedstaaten der Union überließen der Diplomatie, oft auch aus Gleichgültigkeit, wichtige europäische Entwicklungsschritte. Die Ständigen Vertreter in Brüssel, die ihre Mitgliedstaaten vertreten, tragen deshalb eine politische Verantwortung, oft auf Instruktionen aus den Hauptstädten hin, gelegentlich auf Basis der Untätigkeit ihrer politisch Vorgesetzten. Wir können mit Freude feststellen, dass sie oft diejenigen sind, die mit all ihrer Professionalität eine Konstruktion im Innersten zusammenhalten, für die sich die nationalen Regierungen allzu oft nur peripher interessieren. Und wir werden es noch bedauern, dass ihr Aufgabenfeld im Vergleich zu ihrer traditionellen Mission immer schwerer und unpassender wird.
Denn die Mehrzahl der innerhalb der europäischen Institutionen behandelten Themen betreffen heute die Innenpolitik. Natürlich sind sie daher immer wieder, je nach den jeweiligen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, Referenden ausgesetzt. Und da die Bürger das Gefühl haben, dass ihre demokratischen Systeme nur bis an die Tore Europas, aber nicht hineinreichen, machen sie von diesem Mittel immer häufiger Gebrauch. Doch eigentlich sollte die von Staaten dominierte europäische Politik in die üblichen demokratischen Prozeduren der Mitgliedstaaten integriert werden. Sie bräuchte nationale Verantwortliche, die zu ihren Entscheidungen stehen und sie der demokratischen Kontrolle unterwerfen. Parlamente sind in dieser Frage keineswegs illegitime Akteure. Im Endeffekt kann die Abhaltung eines Referendums deshalb als Beweis für zweierlei herhalten : entweder für die außerordentliche Wichtigkeit einer zentralen politischen Frage oder für ein bestehendes inneres Demokratiedefizit.
Wir sollten uns deshalb nicht des notwendigen Handlungsspielraums der Diplomatie berauben, um zu stabilen und konstruktiven internationalen Beziehungen zu gelangen. Wir sollten allerdings auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die Europapolitik heute Innenpolitik ist. Wir sollten sie deshalb auch als solche behandeln, zum Beispiel im Rahmen großer Wahltermine und der sie begleitenden Kampagnen. Nur so können wir verhindern, legitim gewählte Vertreter und ebenso legitime Volksabstimmungen miteinander in Widerspruch zu bringen.