Ist es inzwischen verpflichtend, sich flegelhaft, vulgär und überzeichnet zu verhalten, nur um genügend unkorrekt zu sein und gewählt zu werden?
Nach dem britischen Brexit-Referendum scheint dies nun auch das Ergebnis der amerikanischen Präsidentschaftswahl zu bestätigen.
Die Emotion ist die Regel, der Tweet die Sprache, die Lüge das Argument. Und weil im Internet ohnehin alles gleich ist, jede Beleidigung wie ein wahrhaftiger Gedanke daherkommt, ist der elektorale Erfolg gewiss. Bürger wie Eliten, Regierte wie Regierende, die ganze demokratische Welt scheint die Vernunft für die Emotion, mal besser mal schlechter im Ausdruck, eingetauscht zu haben.
Man muss zugeben, dass das alles nicht unerwartet kommt. Die Gewissheiten sind schneller ins Wanken geraten als die Fakten. Der wissenschaftliche Fortschritt lässt die althergebrachten Errungenschaften alt aussehen. Die Migration erreicht ungekannte Höhen. Die Globalisierung besorgt den Rest. An eine solche Konkurrenzsituation nicht gewöhnt, machen die Demokratien einen verlorenen Eindruck. Viele ihrer Regierenden sind heute mehr Kommentatoren als Akteure, die Realitäten nacheilen, die sich ihnen entziehen. Und der Größenwahn feiert fröhliche Urständ.
Dennoch gibt es andere Strategien, zivilisierter und ganz sicherlich effektiver, um politisch unkorrekt zu sein. Sie bestehen darin, Wege zu erkunden, die bislang als unwahrscheinlich eingeschätzt wurden und Innovationen vorzuschlagen, die sich den rapiden und machtvollen Wandel Untertan machen.
Die amerikanische Wahl formuliert vor diesem Hintergrund eine europäische Pflicht zu Reaktion.
Um zu verhindern, dass sie sich in dieselben Fußstapfen begeben, müssen die Europäer neue Rezepte schreiben, um den Geist und die Herzen zurückzugewinnen. Die ewige Wiederholung der Grundüberzeugung, dass die Einigung des Kontinents vorangetrieben werden muss, wird dafür nicht mehr reichen. Man muss an die Herzen der Menschen appellieren und deshalb über die Zukunft sprechen.
Lange schon wissen wir um die Gefahr, die es bedeutet, die eigene Sicherheit in die Hände anderer zu legen. Während sich Amerika, das sich seit Jahren schon anderweitig orientierte, mehr und mehr auf sich zurückzieht, gerät Europa unter Zugzwang.
Lasst uns also die sterilen Debatten über die « Souveränität » ad acta legen und uns auf eine moderne Definition einigen: Gibt es heutzutage für einen Staat wirkliche Souveränität ohne die enge Kooperation mit Freunden, Nachbarn und all den anderen ? Donald Trump wird dies sehr schnell merken, so abhängig von außen wie die amerikanische Wirtschaft ist. Das befreit uns jedoch nicht von echten Anstrengungen. Es ist eine dringliche Pflicht, dass sich Europa um eine eigenständige Verteidigung und Sicherheitspolitik kümmert. Diejenigen, die die bisherige Abhängigkeit beibehalten wollen, dürfen nicht für die anderen sprechen können und müssen zurückgelassen werden.
Inzwischen weiß jeder, dass der Umfang der Migrationsbewegungen eine Herausforderung darstellt, die nicht mit den Methoden der Vergangenheit angegangen werden kann. Eine wiedergefundene Souveränität in diesem Bereich geht nur über eine « Koalition der Willigen », die sich auf gemeinsame Aufnahmebedingungen und den Status von Neuankömmlingen einigt. Sie steuert dann gemeinsam den wachsenden Strom an Migranten. Worauf warten wir noch?
Schließlich kann auch die Wirtschaftspolitik nicht dem Belieben des Windes überlassen werden, als Ausfluss irgendeiner wie auch immer gearteten Ideologie. Die europäische Konstruktion muss einer Revision unterzogen werden, die nicht alleine die Mitgliedstaaten definieren dürfen. Der Platz des Staates in der Wirtschaft, der Handel, die Freizügigkeit, die Wettbewerbspolitik, die Steuern, die soziale Absicherung – alle sind sie Gegenstand permanenter Attacken, oft zu vereinfachend, gelegentlich legitim. All diese Themen verdienen eine Klarstellung unter den Europäern, die nur zusammen in der Lage sind, ihr attraktives Modell aufrechtzuerhalten. Zu diesem Zweck scheint eine große Konferenz nach dem Vorbild von Messina im Jahr 1955, die der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine nun vorschlägt, die richtige Antwort.
Europa kann ein Vorbild friedlicher Kooperation bleiben, wenn seine Mitgliedstaaten sich simpler gemeinsamer Ideen vergewissern. Es geht hier nicht mehr um Diplomatie, sondern um einen Wettbewerb der Ideen und der Erarbeitung einer gemeinsamen Vision – selbst wenn nur wenige mitmachten. Neue Territorien können so erkundet werden, die sowohl die Träume und Enthusiasmen des Künftigen wie auch seine Realitäten ansprechen: Ist es nicht auf und im Meer, wo die Europäer brillieren, wo sie eine Verlängerung ihrer ökonomischen und umweltpolitischen Ambitionen vorfinden? Ist es nicht im Weltraum, wo Europa seit jeher große Erfolge feiert, dass die Europäer eine technologisch und wissenschaftlich führende Rolle einnehmen können? Ist es nicht im Gesundheitsbereich, wo ihre Forschung herausragend ist, dass die Europäer ein gewichtigeres Wörtchen mitzureden hätten? Was ist mit ihrem Modell sozialer Teilhabe, das kostspielig aber zutiefst menschlich ist und das der deregulierten Welt eine Botschaft senden könnte? Beispiele aufzeigen und den gemeinsam gegangenen Weg schützen, gleichzeitig jedoch stets neue Ziele von Weltwirkung erkunden – so können einige europäische Staaten gemeinsam den stotternden europäischen Motor neu starten. Ist es politisch unkorrekt, so etwas zu fordern? Wie dem auch sei, all die derzeitigen nur lebensverlängernden Maßnahmen in Form vertiefter Divisionen, alter Überzeugungen und einer gewissen intellektuellen Trägheit wären vor der Geschichte nichts als flegelhaft.