Diese Woche hat auch Europa Schulanfang.
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wird am 14. September seine jährliche Rede zur Lage der Union halten. Und am 16. werden sich die Staats- und Regierungschefs in Bratislava erstmals ohne das Vereinigte Königreich treffen.
Das Jahr 2016 wird ein weithin sichtbarer Wendepunkt in der Geschichte Europas bleiben: Attentate, Migration, Brexit, Ukraine, Syrien, Libyen, Mali...
Die Sicherheit der Europäer ist nunmehr in Gefahr, von innen wie von außen, durch den Terrorismus wie durch die Rückkehr militärischer Gewalt und einer Politik der vollendeten Tatsachen durch große Staaten. Das globale Koordinatensystem verschiebt sich dadurch.
Die Flüchtlingskrise, die mehr als eine Million Menschen nach Europa brachte, die nicht alle Flüchtlinge sind, wurde noch immer nicht gelöst. Um sie zu mildern, verlässt man sich nun auf wenig vertrauenswürdige äußere Partner wie die Türkei und Libyen.
Populismus, Extremismus und Nationalismus bedrohen alle Demokratien, auch auf der anderen Seite des Atlantik. Doch das unvollendete Europa ist dafür anfälliger. Keines seiner Länder ist davor gefeit, weder die Erfinderin der parlamentarischen Demokratie noch das wohlhabende und friedfertige Deutschland.
Die europäische Wirtschaft hat noch keinen Ausweg aus ihrem dürftigen Wachstum gefunden und die öffentliche Verschuldung nicht überwunden. Sie wird von einer Globalisierung destabilisiert, die die Freizügigkeit des Kapitals und der Güter sichert, doch nicht jene der Personen.
Diese vier Herausforderungen betreffen nicht nur Europa, sondern den ganzen Planeten, der es jedoch nicht schafft, sich auch nur auf die nötigsten Regeln zu einigen. Der vergangene G20-Gipfel beispielsweise war eine hervorragende Darbietung des „Huaju“, des chinesischen Sprechtheaters, bei dem jeder der Anwesenden die Fassade über den Inhalt stellte. Die Vereinten Nationen wiederum versagen bei der Befriedung des syrischen Konflikts oder bei der Eindämmung offensichtlicher Gefahren wie der nordkoreanischen. In dieser Zeit des Umbruchs ist die internationale Politik mehr von Überraschungen als von Gewissheiten geprägt.
Die Europäer sollten daraus ableiten, dass sie noch mehr dafür tun müssen, um ihre inneren Gräben zu überwinden, um nicht zu sagen ihre Indifferenz gegenüber einer Union, die sie einst so sehr wollten. So könnten sie ein Beispiel abgeben für eine internationale Gemeinschaft, die nichts mehr gemeinschaftliches hat.
Doch die Solidarität der Mitgliedstaaten ist zurückgegangen und „kleine Sonderklubs“ sind schwer in Mode gekommen (Visegrad, Südstaaten, sozialdemokratische Länder...). Diese Formationen sind tödliches Gift für die europäische Einheit. Noch dazu ergeben sich die Probleme (Sicherheit, Migration, Populismus, Wirtschaft) voll und ganz aus den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, die diese eben nicht an die gemeinsamen europäischen Institutionen abgegeben haben. Die Zukunft Europas spielt sich also sehr wohl in den Hauptstädten und zwischen ihnen ab, und nicht in Brüssel oder Bratislava.
Es ist deshalb sinnlos, Europa zu kritisieren – denn wenn man es kritisiert, meint man eigentlich sich selbst –, sondern notwendig, sich zu fragen, wo Europa bei der Lösung dieser drängenden Probleme nützlich sein kann und wie man sich zusammennehmen kann, um wirksame Antworten zu finden.
Das macht allerdings ein nachhaltiges Engagement vonseiten der Mitgliedstaaten notwendig, das auf ein ehrliches und offenes Hinterfragen folgt. Es ist nicht sicher, dass die traditionelle Gemeinschaftsmethode („mehr Europa“) heute der richtige Weg ist. Vielleicht müssen wir andere Wege beschreiten, um unser Ziel zu erreichen und unseren Kontinent zu einen?
Die Integration bleibt das Ziel, doch sie ist nicht zwingenderweise das beste Mittel unter den gegenwärtigen Umständen. Weil sie sich mehr auf das Prozedere als auf die Ziele konzentrieren, geben unsere großen Chefs, in den Mitgliedstaaten wie in Brüssel, ein Bild der Ohnmacht in gerade jenem Moment ab, in dem Europa seine Stärke beweisen müsste.
Indem sie den „Verfall Europas“ kommentieren, gar ankündigen, tragen die Akteure zu seiner Schwächung bei. Diese Kommentatoren sollten sich stattdessen wie Akteure verhalten, auf der Höhe der Aufgaben mit Mut, Kreativität und Schnelligkeit.
Es ist vordringlich, die Sicherheit der Europäer durch eine Kraftanstrengung im Bereich der Verteidigungsausgaben zu sichern. Ein entschlossenes und signifikantes Engagement in diesem Bereich bleibt Priorität Nummer eins.
Um die Sicherheit unserer Grenzen zu sichern, brauchen wir keine Gemeinschaft europäischer Seeretter, sondern einen gemeinsame Migrationspolitik.
Und sollten wir vielleicht einige der liebgewonnenen Dogmen über Bord werfen, um Wachstum zu schaffen?
Jeglicher Schritt hin zu mehr gemeinsamem Handeln – und das wird uns für Bratislava angekündigt – ist selbstverständlich positiv, doch es ist es vor allem echte Solidarität, die wir brauchen. Solidarität mit denen, die gegen den Terrorismus kämpfen, mit den von der Flüchtlingskrise betroffenen Staaten, mit den in Schwierigkeit geratenen und unter denen, die zum Handeln entschlossen sind.
Um die Bürger zu überzeugen, dass die Populisten Unrecht haben, dass die Extremisten schon immer Unrecht hatten und dass der Nationalismus uns schon das Allerschlimmste beschert hat, brauchen wir konkretes Handeln und schnelle Ergebnisse, keine hochgestochenen neuerlichen Ankündigungen.
Und wenn das nicht im Kreise der 28 realisiert werden kann, dann müssen Staaten, die willens sind, die Initiative ergreifen. Es wird nur über das Exempel einiger Staaten möglich sein, dass sich die europäische Konstruktion auf neue Herausforderungen einstellt.