Welche Antworten auf den Brexit?
Die Möglichkeiten des Kontinents
Es ist eine Schlappe für uns alle, wenn ein Mitgliedstaat die Europäische Union verlassen möchte. Ungeachtet der nicht zu widerlegenden Besonderheiten Großbritanniens, ist es notwendig, diese Niederlage weder zu unterschätzen noch nachlässig zu analysieren. Sie fördert begangene Fehler und Anzeichen für schwere Komplikationen offen zutage.
Zunächst zu Großbritannien: Im Willen, seine Partei zu einen, spaltet David Cameron das Königreich. Die Briten sind auf Dauer tief entzweit. Die künftige Rolle Gibraltars, Nordirlands, Schottlands und der City of London stellt das Vereinigte Königreich vor gewaltige politische Probleme, von den wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen eines Ausstiegs ganz zu schweigen.
Weiter zur Europäischen Union: Von Desinteresse der nationalen politischen Eliten begleitet, wurde sie seit zwanzig Jahren mehr und mehr als selbstverständlich erachtet, ihre Politik angezweifelt, ihre Funktionsweise kritisiert und ihre Ziele in Zweifel gezogen. Sobald die Ergebnisse des Referendums bekannt wurden, wurde eine um die andere Stimme laut, die für ihre Neu-Gründung, ihre Reform, ihren Wandel eintrat. Man könnte sich also freuen, dass die nationalen Akteure sich nunmehr stärker für diese Konstruktion interessieren, die ein wesentlicher Bestandteil der Lösung nationaler Probleme ist. Doch wäre es vor allem notwendig, dass diese nationalen Akteure einmal mit Mut an die Sache gingen und beharrlich für ihre Positionen werben. Wir können nur hoffen, dass die Wahlen, die auf dem Kontinent folgen, eine Gelegenheit bieten, um konkrete Vorschläge und klare Ideen für die europäische Sache zu artikulieren. Welchen Zielen dient sie? Wo führt sie hin? Bleiben wir eine der wichtigsten ökonomischen und demokratischen Gemeinschaften der Welt? Denn es handelt sich sehr wohl um die Angst einer Deklassierung in der neuen Welt, ein Gefühl des Abstiegt, das die Europäer umtreibt. Sie werden darauf Antworten finden müssen.
Wir hätten diese Debatten seit langer Zeit führen müssen und wir werden sie auf höchst demokratische Art und Weise führen müssen. Das heißt, wir müssen künftig Repräsentanten ein klares Mandat erteilen, die ihre Wahl einer europäischen Vision verdanken, die sie verpflichtet. Das ist das geeignete Prozedere, um der repräsentativen Demokratie ihre Rechtfertigung und ihre Noblesse zurückzugeben.
Unterdessen ist Eile geboten. Die Europäische Gemeinschaft bestand vor dem Beitritt Großbritanniens im Jahr 1973 und sie wird auch nach dessen Abschied Bestand haben.
Der britische Austritt sollte mit klarem Blick geregelt werden, nicht in einem Verlangen nach Revanche oder Bestrafung. Großbritannien bleibt ein wichtiger Partner einer Union, deren Regeln es künftig nicht mehr mitbestimmen wird. Der Kontinent hingegen wird seinem Weg weiter folgen müssen und zeigen, dass seine Ordnung, selbst wenn sie der Reform bedarf, nicht jener Albtraum ist, als den sie manche beschreiben.
Die politischen Führer der Mitgliedstaaten stehen in einer gewaltigen Verantwortung. Sie sollten deshalb geeint und auf der Höhe der Aufgaben agieren. Sie sollten ihren Zusammenhalt zeigen, um auf die Fragen jener Bürger europäische Antworten zu finden, die sie bislang nicht gefunden haben. Dabei handelt es sich insbesondere um veritables gemeinsames Handeln. Ohne spontane, dauerhafte Kooperation, sind Verträge und Prozeduren nichts als lästige Verpflichtung.
Bevor sie sich an irgendeine Vertragsänderung machen, sollten sie mit den ihnen schon jetzt zur Verfügung stehenden Mitteln unmittelbar Antworten finden auf die Flüchtlingskrise, auf das zurecht um sich greifende Gefühl der Unsicherheit, auf die wirtschaftlichen und sozialen Sorgen der Europäer.
Finanzielle und praktische Unterstützung für andere Staaten bei der Bewältigung der Flüchtlingswelle, ist nicht anderes als konkrete Solidarität, die der Steuerung der Migration unter Einhaltung unserer Grundprinzipien dient. Das Ziel muss es sein, den Migrationsdruck in einem gemeinsamen Ansatz nachhaltig zu reduzieren, der die Innenpolitiken der Mitgliedstaaten verbindlich koordiniert.
Das Engagement für eine begrenzte und doch solidarische Zusammenarbeit, um innere wie äußere Sicherheitsbedrohungen zu bekämpfen und alle jene zu unterstützen, die den Kampf gegen den Terrorismus führen, bei uns wie andernorts, wäre ebenso der Nachweis einer echten europäischen Solidarität.
Auch eine Verbesserung der Funktionsweise der Eurozone wäre sofort möglich, ohne die Verträge zu ändern. Das würde eine mentale Öffnung erfordern, die nicht nur auf die rigorose Umsetzung des bitteren Tranks der gemeinsamen Regeln reduziert wäre. Ohne gleichzeitige Möglichkeiten zur Förderung des Aufschwungs und zur Umstrukturierung der Schulden wird die Hoffnungslosigkeit weiterhin die Menschen ergreifen und sie in die Arme der Populisten treiben. Disziplin genügt nicht mehr, um Stabilität zu erreichen. Nur die Hoffnung auf Besserung kann den Trauermarsch der Skeptiker aufhalten und in Schwierigkeiten befindlichen Staaten ihre innere Balance zurückgeben.
Für all jene drängenden Fragen wird es nicht notwendig sein, föderale Antworten zu ersinnen und neue Organigramme zu entwerfen. Ein glaubhafter Geist der Kooperation reicht völlig aus. Der Rest kommt danach. Und wenn es sich, wie stets, als schwierig erweisen sollte, dass die 27 eine gemeinsame Linie finden, dann sollten bestimmte Länder mit gutem Beispiel vorangehen, und zwar sofort! Den Institutionen der Union fällt hierbei die Rolle zu, realistisch zu agieren und die Staaten in ihrem Werk zu unterstützen. Es steht außer Zweifel, dass Jean-Claude Juncker eine strategische und politische Vision hat, auf die er nun zurückgreifen kann.
Für die Zukunft Europas wäre es sicherlich eine gute Nachricht, falls die Ideenschublade endlich geöffnet würde. Nichtsdestotrotz, für seine jetzige Stabilität ist es immanent, konkrete, greifbare und dennoch mutige Antworten auf um sich greifende Befürchtungen und Ängste zu finden. Sie verlangen eine strategische Vision, die sich unmittelbar in einem wiederentdeckten gemeinsamen Willen und einem neuen Mut ausdrückt. Das wäre nicht anderes als eine historische Wende für Europa.