fr en de
portrait

Geduld und Tugend

Griechenland, Großbritannien, Russland...

Die Herausforderungen häufen sich für die Europäer.

Terrorismus, Sicherheit, Wirtschaftskrise, Migration, Wachstum: An eine unablässige Verbesserung ihrer Lebensbedingungen in lange währenden Friedenszeiten gewöhnt, zweifeln sie nun - eine wahrlich europäische Spezialität.

Die Briten fragen sich, ob sie Europa verlassen sollen. Die Griechen bekämpfen es, obwohl sie ohne seine Hilfe nicht überleben könnten. Anderswo lassen die Eliten all ihren Mut fahren, Meinungen driften auseinander. Wenn Europa nicht mehr voranschreitet, verliert sein Geist an Fahrt.

Ständig erwartet man wagemutige Vorstöße vonseiten unserer nationalen Entscheidungsträger, um die Legitimationslücke zwischen der Kostbarkeit nationaler Identitäten und der Unumgänglichkeit effektiver supranationaler Politik zu überwinden. Um die Europäische Union aufzuwerten.

Es wird nicht notwendig sein, das Rad dabei neu zu erfinden. Im Kontext der sich unfassbar beschleunigenden Globalisierung ist das unablässige Reformieren Trumpf. Doch es gilt das Erreichte zu erhalten. Die europäische Einigung ist ein Auftrag für Generationen, eine Vision für die Zukunft, ein Projekt der Notwendigkeit.

Ohne die Geduld und die Solidarität der Europäer würde Griechenland vermutlich in jene Zeiten der Bürgerkriege zurückfallen, von denen seine Geschichte nur allzu gezeichnet ist.

Ohne die europäische Wirtschaft, von der es profitiert, hätte Großbritannien sicherlich einmal mehr seine Währung der Erniedrigung eines raffgierigen Milliardärs preisgeben müssen.

Ohne die Gemeinschaft, die es ohne Unterlass der Aushöhlung seiner Souveränität bezichtigt, hätte Frankreich angesichts all seiner fiskalischen Abenteuer eine Abwertung seiner Wirtschaft und seines Rangs in der Welt hinnehmen müssen.

Ohne die Europäische Union hätten die Staaten Südeuropas kaum die, manchmal allzu spekulative, wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte erfahren.

Ohne die Europäische Union, wären die Staaten Mittel- und Osteuropas in der Lage gewesen, Jalta letztlich doch zu überwinden und wieder ihren natürlichen Platz im Herzen Europas einzunehmen?

Doch all das reicht nicht, da Erreichtes Gewohnheit wird, deren Erinnerung verblasst.

Zu predigen, was wir ohne Europa wären das ist als würde man der Heuschrecke von Jean de la Fontaine erklären, was der Winter ist.

Dennoch ist sie eine europäische Tugend, die nicht von der Hand zu weisen ist, die Geduld.

Geduld im Äußeren, Geduld im Inneren.

Gegenüber den großen Nachbarn, die sich vor ihrer Verantwortung in gesteigerten Nationalismus flüchten.

Gegenüber den etwas kleineren, denen noch nicht klar geworden ist, dass Rechtstaatlichkeit und Recht Voraussetzung sind für gesellschaftliche Entwicklung.

Gegenüber dem Fanatismus, der zur Säkularisierung aufgerufen ist, falls er sich das Wohlwollen der Gläubigen erhalten möchte.

Geduld gegenüber den von Schwierigkeiten übermannten Griechen, die von einer Regierung ausgenutzt werden, die Schulden für gratis hält.

Geduld mit unseren Nachbarn von der anderen Seite des Kanals, die auf der Suche nach einer Gegenwart sind, die mit ihrer glorreichen Vergangenheit Schritt halten kann.

Widerstand hingegen, wenn Sündenböcke gesucht sind. Wenn Regierungen die Europäische Union kritisieren, dann kritisieren sie sich selbst. Oder wenn der Nachbar ohne diplomatische Konsequenzen kritisiert wird...

Geduld ist nicht die Tugend des Volkes, doch für das Führen von Staaten ist sie unabdingbar. Das Flechtwerk von Verträgen und Verpflichtungen, das die Europäer sich als Partner erschaffen haben, ist zumindest eine Garantie gegen die Ideologen und Demagogen, gegen die Angriffe auf Recht und Freiheit, gegen jene Unfälle die Geschichte allzu oft eine tragische Note verleihen, obwohl sie sich häufig mit gutem Menschenverstand vermeiden ließen.

Es bringt demnach nichts, ständig Europa und seine Komplexität zu bekritteln. Natürlich, man würde sich ein aktiveres, stärkeres, entschlosseneres Europa wünschen, doch wenn es nicht da wäre, würde es uns fehlen. Und es reformiert sich!

Trotz aller Zwischenfälle, britischer, griechischer, anderer Art, wird Europa doch seinen Bürgern die eigentlich wichtigen Dinge sichern: die Freiheit, die Demokratie, den Wohlstand und die Solidarität.

Denn seine Geduld ist eine Tugend, insbesondere diejenige, die wir gemeinsam und nicht mehr auf uns alleine gestellt pflegen.
signature