Das Jahr 2014 hat der EU eine Ernüchterung gebracht
Das institutionelle Gefüge in Europa hat sich verschoben. Grund dafür ist ein rundum erneuerter Regierungsapparat, eine neue Wachstumspolitik und ein verändertes, strategisches Umfeld. Dieser Wandel hat vor allem die Zukunftserwartungen gedämpft. Fest steht jedenfalls, dass auf die Europäer im Jahr 2015 eine grundlegend neue Ausgangssituation wartet. Wird sie zu mehr wirtschaftlichem Wachstum führen? Unter welchen Bedingungen ist es überhaupt legitim anzukündigen: "Europe is back"?
Die Gemeinschaftsinstitutionen haben sich verändert
Das Arbeitsprogramm Jean-Claude Junckers markiert eine wahre Zäsur. Als Maßnahme für den Abbau von Bürokratie strich er sogleich 83 geplante Gesetzestexte, nur an 25 soll weiter festgehalten werden. Die Absicht dahinter ist klar: Man will sich auf das Essentielle, das Wirtschaftswachstum konzentrieren. Einzigartig ist sein Programm schon allein deswegen, weil es erstmals aus Mitteln des EU-Haushalts finanziert wird. Verwaltet werden soll das Programm von der Europäischen Investitionsbank. Damit hängt das Vorhaben nicht mehr am Tropf der nationalen Mitgliedsländer. Die erhofften 315 Milliarden Euro könnten sich aber für den Fall verdoppeln, dass die Mitgliedsländer bereit sind sich am Kapitalaufbau für den neu ins Leben gerufenen Investitionsfonds zu beteiligen.
Die ersten Schritte im neuen Amt des Präsidenten des Europäischen Rates sind Donald Tusk gelungen. Ziel der Staats- und Regierungschefs war es sich auf die großen Leitlinien zu einigen, sich nicht ständig im Kleinklein und dem Ausbalancieren der Interessen zu verlieren.
Erfolgreich die eigenen Kompetenzen wahrnehmen
Das Europäische Parlament ist die einzig direkt gewählte Institution der EU. Ausgestattet mit dieser Legitimität scheint es nun endlich erwachsen zu werden. Der Eifer für immer neue Gesetzesvorhaben wurde gezügelt, stattdessen wird das Europäische Parlament mehr und mehr zu einem echten Ort der politischen Debatten und der Volksvertretung. Der Lärm, der von extremen Parteien ausgeht, könnte diesen Erfolg aber wieder zunichte machen; und das, obwohl diese nur 25% der EU-Parlamentarier ausmachen. Dies könnte einen 'Schritt zurück' bedeuten: Ein erneutes Anwachsen populistischer Umtriebe, mehr Fremdenfeindlichkeit, viel Getöse und keine Vorschläge mit Substanz.
Nach der unausweichlichen Haushaltkonsolidierung, die nach 20 Jahren öffentlicher Ausgaben auf Pump notwendig geworden war; nach Strukturreformen, die ebenso Investitionen auf solider Basis erforderlich machen, könnte nun endlich die Zeit des Aufschwungs anbrechen. Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass nicht alle Länder diesen Weg eingeschlagenen haben. Frankreich und Italien beispielsweise mühen sich weiter ab auf Kurs zu bleiben, obwohl ihnen die europäische Realität eigentlich keine andere Wahl lässt.
Und selbstverständlich bleiben auch die negativen Auswirkungen bleiben nicht aus, wenn alles zur gleichen Zeit vorangetrieben werden muss. Aber eine erneute Politik des leichten Geldes bleibt solange unmöglich, wie die Mitgliedsstaaten sich gegen eine vollkommene Europäisierung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik sperren. Einzeln von den Investoren geprüft, würde das den sicheren Konkurs bedeuten. Die Letten, Irländer, Griechen, Spanier, Portugiesen und Zyprioten wissen das besser als alle anderen.
Die Wachstumsvorschläge der Kommission sind daher wohl überlegt und angebracht. Sie haben die Zukunft im Blick, auch wenn sich daraus Probleme für die Gegenwart ergeben. Investieren heißt einen Rückfall vermeiden. Jetzt fehlt nur noch, dass die Mitgliedsländer dieses Spiel auch mitspielen.
Keiner weiß, nicht einmal er selbst, ob sich Wladimir Putin schlussendlich als einer der neuen Väter Europas erweisen wird. Putin hat alles dafür getan, dass die Europäer endlich gemeinsam handeln – in Anbetracht der Tatsache, dass zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg die Grenzen auf dem europäischen Kontinent infrage gestellt werden. Diesbezüglich weigern sich die Mitgliedsländer der EU aber ebenso den Dialog mit Russland abzubrechen. Das Land soll auch weiterhin ein privilegierter Partner Europas bleiben. Die dortige Finanzkrise zeigt jedoch, dass es den Europäern nicht an Entschlossenheit fehlt.
Der russischen Staatselite bleibt es damit selbst überlassen, ob sie weiter vor ihrer Verantwortung für die breite Masse des Volkes fliehen und sich in einen hemmungslosen Nationalismus flüchten will. In einer Zeit vor der Europäischen Union hätte der Kontinent längst Feuer gefangen. Mit Blick auf die Zukunft ist es nun notwendig den russischen Krieg in der Ukraine zu beenden. Vernunft und gemeinsam verfolgte Interessen müssen wieder die Oberhand gewinnen.
Mindestens genauso gefährlich ist der Religionskrieg, den einige über die Welt bringen. Die EU ist davon betroffen und muss deshalb auch eine Antwort darauf finden. Die von ihr vertretenen Werte Freiheit und Demokratie locken Menschen an, weil sie das Individuum mehr respektiert als alle anderen politischen Systeme. Die EU muss ihren Wertekanon aber auch unabhängig und glaubwürdig verteidigen.
Die Verteidigung bleibt ein Problem für einen Kontinent, der an den ewigen Frieden glaubt, nur weil er dort seit langem die Regel ist. Und dennoch: Mehrere Mitgliedsstaaten stellten 2014 ihre Entschlossenheit unter Beweis. Einige unter ihnen nahmen die aktuellen Ereignisse gar zum Anlass getreu dem Sprichwort "si vis pacem para bellum" das Ende ihrer Demilitarisierung zu verkünden.
Das Jahr 2015 lässt uns angesichts der zahlreichen Verschiebungen und Ungewissheiten neu auf die Welt blicken. Es nährt in uns die Angst, die alle Zeiten des Umbruchs begleitet. Aber es liegt an uns, sich jetzt auf die Zukunft vorzubereiten. Nichts ist sicher, weder für aufstrebende Länder, wie Brasilien oder Indien, die ebenso Schwierigkeiten durchmachen; weder für die Rohstoffexporteure, die gerade die Erfahrung volatiler Preise auf den Rohstoffmärkten machen; weder für die Gerissenen, die glaubten ihre Wohlstand unbemerkt in kleinen Fiskalnischen verbergen zu können. Die Zukunft der Welt wird sich in den großen, globalen Streitfragen entscheiden: Immigration, Handel, transnationale Kriminalität, Umwelt. Sie ist dabei mehr denn je auf Kooperation angewiesen.
Bei dieser Gemengelage hat die Europäische Union einen Vorsprung - sie ist auf Supranationalität gebaut – auch wenn sie diesen Grundgedanken noch nicht bis zur letzten Konsequenz verfolgt hat.
Auch wenn die Identitätssuche keine leichte Aufgabe werden wird: Europa muss wissen, dass es zwar durch die wirtschaftliche Entwicklung auseinander dividiert werden kann; dass es aber durch seine kulturelle Identität, die sich über Jahrtausende gefestigt hat, zusammengehalten wird. Seinen Kurs der wirtschaftlichen Integration muss es deshalb fortsetzen. Dieser erlaubte es bereits während der Krise widrigen Umständen zu trotzen und wird Europa auch jetzt zukunftsfest machen. Dafür ist es aber zuvorderst nötig, sich auf die großen strategischen Ziele zu einigen und Europas weltweite Interessen in den kommenden Jahren zu schützen. Das Eintreten für die repräsentative Demokratie gehört dazu.
Zum Beispiel darf man sich nicht länger der Realität auf einem Planeten verweigern, der zu 70% aus Wasser besteht. Über diesen Weg läuft nicht nur zu einem ganz wesentlichen Teil der Handel, dort liegen auch die Ressourcen der Zukunft. Müsste nicht deshalb das Ziel lauten, die größte Seemacht weltweit zu werden und damit die ökonomische Einflusszone auszuweiten?
Um seine Interessen verteidigen zu können, muss man aber überhaupt erst in der Lage sein sich zu verteidigen. Das bedeutet auch die Vorbehalte und Gräben innerhalb der Europäer zu kennen. Einige Mitgliedsländer sind bereit in Verteidigung zu investieren, was auch für die Wenigen, die weiter unabhängigen auf diesem Gebiet verwahren wollen, neue Entwicklungen mit sich bringt.
Natürlich kann das Zusammenwachsen Europas nicht aus dem Augenblick heraus beurteilt werden. Es braucht eine langfristige Perspektive. Und da stellt sich schnell heraus: Europa kann sehr wohl handfeste Erfolge verbuchen. Seit nunmehr sechs Jahren ist die EU jedoch mit noch nie dagewesen Problemen konfrontiert. Die Verpflichtung zur Einheit ist deshalb dringender als jemals zuvor. Gelänge es Europas Politikern, trotz dieses ungeheuren Ausmaßes an Problemen, die europäische Gemeinschaft auf ein neues Niveau zu heben, würden sie damit unweigerlich dazu beitragen Geschichte zu schreiben.