Die Verleihung des Nobelpreises an die Europäische Union ist eine Anerkennung für all das, was die Union für den Kontinent erreicht hat. Sie ist auch ein Appell an die Union, auch in Zukunft alles zu tun, um die derzeitige Krise zu überwinden.
Nach dem zweiten Weltkrieg, der als zweiter europäischer Bürgerkrieg den gesamten Kontinent in Mitleidenschaft zog, hatten Sieger und Besiegte keine andere Wahl, als einen historischen Schritt zu tun. Persönlichkeiten wie Churchill, Schuman, Adenauer, Gasperi und andere konnten ihre Völker davon überzeugen, die Kriegslogik der Vergangenheit zu durchbrechen und stattdessen in eine Verbindung unauflösbarer Solidarität einzutreten, die Frieden, Stabilität und die Rückkehr zu einem Leben in Wohlstand ermöglichte.
67 Jahre nach Ende der letzten Kampfhandlungen auf europäischem Boden ist Europa der reichste Kontinent der Welt und obwohl es Meinungsverschiedenheiten zwischen den europäischen Völkern und Nationen gibt, kommt niemand mehr auf die Idee, diese durch Gewaltanwendung zu regeln.
Europa hat sich für Regeln, Verfahren und Institutionen entschieden, innerhalb derer die Meinungsverschiedenheiten – in der Tat manchmal langwidrig und zeitraubend– diskutiert werden, aber in der festen Absicht, sie zu überwinden.
Dies war nicht absehbar. Das Beispiel Europas hat zum Ende der Diktaturen in Griechenland, Spanien und Portugal beigetragen, zum Zusammenbruch des Kommunismus im Osten geführt und über 180 Millionen Europäer in die Demokratie zurück geführt.
Das Beispiel Europas wird weltweit beachtet, in Asien, wo es Spannungen aufgrund von Gebietsstreitigkeiten gibt, in Afrika, wo ethnische Streitigkeiten für viel Leid sorgen oder an anderen Orten, wo die Aktualität der europäischen Idee, seine praktische Ausgestaltung in Bezug auf Solidarität und Dialog oft das einzige Gegenmodell sind zu traditionellen Verhaltensmustern, die auf der Macht des Stärkeren basieren.
Die Europäische Union hat diesen Nobelpreis ehrlich verdient.
Der Nobelpreis ist jedoch auch ein Appell. Europa ist umso stärker durch die weltweite Krise betroffen, weil es noch nicht vollendet ist. Aus seiner Sorge, es allen recht zu machen, schreckt es davor zurück, weiter voran zu gehen und den europäischen Bürgern neue soziale und wirtschaftliche Perspektiven zu bieten, die zur Überwindung der Krise notwendig sind. Die Wirtschafts-, Währungs- und Fiskalunion ist so stark umstritten, weil sie den Kern der staatlichen Souveränität berührt.
Die Antworten, die die aktuelle Krise erfordert, lauten europäischer Haushalt, der diesen Namen verdient, Fiskalunion und europäische Wirtschaftsunion. In gewisser Weise sehen sich die Europäer ähnlich großen Herausforderungen gegenüber wie am Ende des zweiten Weltkriegs.
Wenn Europa im 21. Jahrhundert in der Welt Gewicht haben möchte, wenn Europa innerhalb der globalisierten Welt noch eine Rolle spielen möchte, kann es dies nur als ganzer Kontinent erreichen, die einzige Dimension, die zählt. Dies ist die Botschaft des Nobelkomitees, die die Europäer zu einem wirklichen Wechsel motivieren soll.
Die Fortschritte, die seit 2007 in der Wirtschaftssteuerung der Union gemacht wurden, sind beachtlich, aber ungenügend. Es handelt sich um Flickwerk, das den alten Bootsrumpf weiter fahrtauglich halten soll. Um jedoch die schwierigen Gewässer des 21. Jahrhunderts bewältigen zu können, brauchen wir ein neues Schiff, das sicher und vereint ist, zunächst auf wirtschaftlicher Ebene, dann darüber hinaus.
Wenn Europa einen Ausweg aus der Krise aufzeigen wird, was in seiner Hand liegt, so werden die Bürger wieder hinter Europa stehen. Dies ist der Appell, den das Nobelkomitee an die Völker und ihre Führer richtet: Schreitet voran und geht das Wagnis ein!