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Tanz am Rande des Abgrunds

Das Spektakel, das die Europäer angesichts der Krise in Griechenland aufführen, ist ein echtes Desaster. Ihre legitimen Diskussionen finden in aller Öffentlichkeit statt und verbreiten Beunruhigung; ihre Divergenzen entwickeln sich zu Unstimmigkeiten, wo doch jeder weiß, dass Europa letztendlich Griechenland helfen wird. Die Europäer machen sich gegenseitig Angst, und dies ist gefährlich. Dadurch können wahrhaftige Diskussionen verhindert werden. 

Ein neuer Egoismus flammt über dem Kontinent auf, der - in unterschiedlichen Formen des Populismus, der Extremismen und des Rückzugs - die Bürger dazu bringt, das behalten zu wollen, was sie besitzen, bevor sie darüber nachdenken, was sie in der  Zukunft aufbauen und teilen können. 

Die führenden europäischen Politiker sind gelähmt und lehnen es ab, die einzig notwendige Frage anzusprechen: Wie können wir uns in Richtung eines wahrhaftigen Föderalismus bewegen, den der Euro, unsere föderale Währung, seit seiner Einführung verlangt, und den nunmehr die Finanzmärkte fordern und der logischerweise notwendig wird? 

Wir brauchen einen wahrhaftigen EU-Haushalt, der europäische Investitions- und Förderungspolitiken ermöglicht, während das, was aus Brüssel kommt, nur strafend ist und sich auf sicherlich notwendige, aber unzureichende technische Formeln des IWF zusammenfassen lässt. Mit einem Haushalt von 1% des BIP ist Europa machtlos. Es muss von nun an schrittweise die Erhöhung seiner gemeinsamen Mittel bis hin zu einem Haushalt planen, der eines Tages mehr als 20% seines Reichtums umfasst. Dies ist der einzige Weg, um eine Wirtschafts- und Sozialpolitik zu betreiben, die noch Grund zur Hoffnung gibt.

Wir brauchen strenge gemeinsame Haushaltsregeln, deren Nicht-Einhaltung automatisch und sofort bestraft wird, aber die von gemeinsamen nationalen Haushaltsentscheidungen im Bereich der Investitionen, der Forschung und der Innovation begleitet werden. Bevor wir uns mit einem gemeinsamen Haushalt ausstatten, der seines Namens würdig ist, müssen wir unsere nationalen Haushalte zusammenführen, sie in Übereinstimmung bringen, wohingegen sie heutzutage in verschiedene Richtungen divergieren. 

Wir brauchen einen europäischen Finanzminister, der als Einziger berechtigt ist, sich über die wichtigsten Ausrichtungen der Wirtschafts- und Haushaltspolitik zu äußern und darüber zu entscheiden. Er würde den Vorsitz des Ecofin-Rats, das Treffen der Finanzminister, führen, und er würde Europa bzw. den Euro in den internationalen Wirtschaftsinstitutionen vertreten. Außerdem würde er von den Staats- und Regierungschefs ernannt. Er wäre für eine festgelegte Zeitspanne nicht absetzbar, er wäre unabhängig, hätte jedoch politische Verantwortung und würde seine Entscheidungen vor der Öffentlichkeit und den gewählten Versammlungen vertreten.

Ein solcher Plan würde einen Bruch und eine wahrhaftige Revolution im europäischen Aufbauwerk darstellen. 

Es ist natürlich nicht einfach, auf politischer Ebene die genannten Entscheidungen zu vertreten, aber sie verdienen eine wahrhaftige demokratische Reflexion. Sie stellen ein Risiko für diejenigen dar, die sie treffen würden, aber die meisten der amtierenden führenden Politiker sind oder werden sowieso durch die Krise bestraft!

Allein durch die Ankündigung eines solchen aktiven Nachdenkens im Hinblick auf einen großen Plan zur Bewältigung der Krise und durch den Nachweis einer starken Entschlossenheit, die Entscheidungen zu tragen, existiert Hoffnung, die derzeitige Lage zu überwinden. 

Wenn diese Entscheidungen jedoch nicht getroffen werden, wäre das so, als tanzten wir am Rande des Abgrunds. 

Gewissermaßen haben wir die Wahl: Wir können entscheiden, bevor wir hineinfallen, oder auf dem Boden des Abgrunds dazu gezwungen werden.
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