Oft verdecken Darstellungen die Realität.
Die gute Nachricht vom Aufkommen neuer wirtschaftlicher Akteure darf nicht vergessen lassen, dass bisher – auch wenn sich das Wachstum in Asien, in Südamerika und Afrika befindet - der Reichtum immer noch in den USA und in Europa ist – in zwei Kontinenten, die die Weltwirtschaft beherrschen. Deshalb verfügen sie über mehr als 50% der Anteile des IWF. Die Europäische Union besitzt 32%, die Euro-Staaten 24% und die USA 18%. Dies sind die Gewichte in der Weltwirtschaft, die in Abhängigkeit von dem Bruttoinlandsprodukt, der Öffnung der Wirtschaft, dem Wachstum und den Währungsreserven berechnet wurden.
Europa ist also kein Kontinent, der in Schwierigkeiten steckt, und er möchte seine Privilegien behalten: Europa ist der reichste Kontinent, der nur – und das auf legitime Art und Weise - seinem Gewicht entsprechend seinen Einfluss ausüben möchte.
Darüber hinaus ist die aktuelle Schuldenkrise nicht mit denjenigen vergleichbar, die die Länder, die nunmehr ein starkes Wachstum verzeichnen, vor ein paar Jahren erlebten. Die heutigen Schwellenländer waren zu dieser Zeit oft sinkende Schiffe. Beim ersten Ölpreisschock in den 70er Jahren und danach angesichts eines Fast-Bankrotts mancher Länder in den 80er Jahren, oder auch bei dem Fall des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa wurden all ihre Schwierigkeiten mit der effizienten Hilfe des IWF überwunden.
Die Ziele des Internationalen Währungsfonds, die im Jahr 1944 festgesetzt wurden, sind auch heute noch relevant: die Organisation der währungspolitischen Zusammenarbeit, die Förderung des Welthandels, der Beschäftigung und des Wachstums, die Senkung der Armut und die Bereitstellung einer temporären Hilfe im Falle von vorübergehenden schwerwiegenden Ungleichgewichten.
Europa kann wahrscheinlich diese unabdingbare Institution am besten verkörpern, die ihren Wandel erfolgreich begonnen hat und diesen Prozess entschlossen fortsetzen muss. Denn Europa ist das einzige wahrhaftige und vorbildliche gemeinsame politische Projekt gegenüber den Turbulenzen, die durch außergewöhnlich schnelle Transformationen hervorgerufen wurden: Europa ist eine friedliche Einheit mit Freiheiten und akzeptierten Regeln.
Die Schwellenländer zweifeln diese Überlegenheit aufgrund ihrer jüngsten Entwicklung an. Aber sie können noch nicht überzeugen. Unter ihnen sind Diktaturen und gewalttätige Gesellschaften, und manche verstecken kaum ihre Anfechtung der demokratischen Prinzipien, die ihrer Meinung nach im 21. Jahrhundert weniger effizient sind!
Sie fordern einen Platz, der ihr noch begrenztes Gewicht in der Weltwirtschaft (BRICS – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika = 15%) rechtfertigen würde; dieser Platz ist jedoch noch nicht gerechtfertigt durch ihre wenig demokratischen Regime, ihre instabilen Gesellschaften, ihre fehlende Offenheit oder ihre zu begrenzte Sichtweise einer internationalen Gemeinschaft, die organisierter, friedliebender und respektvoller für die Menschen und ihre Umwelt sein muss. Kurzum: Sie muss modern sein.
Aber eine der Lektionen aus der aktuellen Krise ist, dass sich das Funktionieren der Weltwirtschaft nicht auf Finanzgleichungen reduzieren lässt und dass es nur mit einem Zivilisationsprojekt möglich ist, das sich auf Freiheit, Regulierung und Solidarität stützt – ein Projekt, das für den Menschen gemacht ist.
Darum bleibt ein Europäer am ehesten dafür qualifiziert, den IWF zu leiten, denn die europäische Einigung ist ein Projekt, das sicherlich schwierig und progressiv, aber auch beispiellos und gelungen ist und das genau dieselben Ziele verfolgt, indem es mit vielen Sicherheiten bricht, die bisher die Beziehungen zwischen den Staaten regelten. Und wenn die Stellung der Frau in der Gesellschaft eines der Kriterien für die Messung ihrer Modernität ist, wäre eine Europäerin eine noch bessere Wahl und ihre Ernennung mehr als symbolisch!
Lesen Sie das Interview mit Jean-Dominique Giuliani, das am 3. Juni 2011 auf 'L'expansion.com' veröffentlicht wurde